Montag, 16. Dezember 2013
Das Geschenk des Lebens
Der Tag des Aufbruchs nach Mexiko war nicht nur ein Tag des Abschieds,
sondern auch des Loslassens. Er markierte den Beginn einer
neuen Lebensphase. Noch nie war ich alleine ins Ausland geflogen,
und bis auf ein paar europäische Länder kannte ich bisher noch
nichts von der Welt.
Die Zeit in Mexiko war in vielerlei Hinsicht inspirierend. Ich durfte
zum ersten Mal Deutsch, Mathematik, Kunst und andere Fächer unterrichten,
dabei meiner Kreativität freien Lauf lassen und viel von
den Kindern lernen. Neben dem Unterricht kümmerte ich mich um
Reparaturen, den Abwasch, Gartenarbeit, Pausenaufsicht und die
Instandhaltung des Schulgebäudes.
Ich verstand plötzlich, dass es oft die bequemen, schnellen und leichten
Wege sind, die auf lange Sicht das Leben an anderer Stelle eher
komplizierter, ungemütlicher und vor allem nicht einfacher werden
lassen. Dort, in Guanajuato in Zentralmexiko, über 9000 Kilometer
von meinem ursprünglichen Zuhause entfernt, stand ich am Anfang
vom Ende »meiner« deutschen Kultur. Hier konnte ich zum ersten
Mal in meinem Leben mit gesundem Abstand mein in Kindheit und
Jugend von außen und von mir selbst konditioniertes Verhalten betrachten,
abwägen und mit einer anderen Kultur vergleichen. Die mexikanische
Leichtigkeit war mir sogleich nahe, die Ruhe und Herzlichkeit
der Einheimischen erlebte ich als wohltuend und angenehm.
Ich spürte, dass das, was ich noch als meine eigene Kultur ansah, in
Wahrheit nur ein Abklatsch von dem war, was man mir erzählt und
vorgelebt hatte. Oft verläuft unsere kulturelle Prägung diametral entgegengesetzt
zu unseren wahrhaften, zu unseren menschlichen Bedürfnissen
und Empfindungen. Immer deutlicher wurde mir, wie viele
Eigenschaften, Gewohnheiten und Normalitäten der deutschen Kultur,
die mir in gewisser Weise übergestülpt worden waren, überhaupt
nicht konform mit meinen inneren Werten gingen. Ich lebte, so meine
Erkenntnis, also nach einem Wertekanon, der zu großen Teilen nicht
in Freiheit in mir entstanden war, sondern mehrheitlich ohne kriti
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